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Frieden schaffen, mit Lenkflugwaffen?

Von Daniel Langwost - Vor ein paar Wochen sah Mathilda Benner den Kurswechsel der Grünen in Fragen von Waffenlieferungen sehr skeptisch. Daniel blickt aus einer anderen Perspektive auf das schwierige Thema.


„Keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete und Diktaturen“, so lautete die unmissverständliche Überschrift eines Absatzes aus dem Wahlprogramm der Grünen zur Bundestagswahl 2021. Noch vor zwei Jahren trat die Partei ideologiekonform fest für Pazifismus und Diplomatie in internationalen Konflikten ein. Schon ein Jahr darauf zeigte sich: Die Realität sieht anders aus, Diktatoren scheren sich nicht um friedfertige Absichten.


Der Farbbeutel

Seit ihrer Gründung waren die Grünen Befürworter restriktiver Rüstungs- und Militärpolitik. So forderten sie in ihrem ersten Bundestagswahlprogramm 1980 die „Auflösung der NATO“ und anderer Militärblöcke, den „Abbau der Bundeswehr“ und die „einseitige Abrüstung“. Von ihren radikalen Positionen haben sie sich seitdem entfernt. So stimmten die Grünen im Jahr 1998 mehrheitlich für eine deutsche Beteiligung an der Luftlandeoperation im Kosovokrieg.


Die große Umstrittenheit dieser Entscheidung zeigte sich im Folgejahr auf dem Bundesparteitag der Grünen, als Verteidigungsminister Joschka Fischer von einem Farbbeutel eines unzufriedenen Parteikollegen getroffen wurde. Der Tabubruch öffnete die Partei für mehr pragmatische Realpolitik, die im Grundsatzprogramm 2002 niedergeschrieben wurde. So ließe sich die Gewaltanwendung im Angesicht von „völkermörderische[r] oder terroristische[r] Gewalt“ rechtfertigen, um den internationalen Zusammenhalt zu gewährleisten. Trotz allem bleibt der Geist der Friedensbewegung in ihrer Politik fest verankert und militärische Lösungen werden nur als allerletztes Mittel in der Konfliktbewältigung verstanden.


So sprachen sich die Grünen auch im Jahr 2021 offiziell noch gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete aus und plädierten für ein Gesetz zur Kontrolle von Rüstungsexporten. Auf einem Wahlplakat ließ sich lesen: „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete“. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sperrte sich im Januar 2022 noch gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, da „der deutsche Beitrag zur Sicherheit der Ukraine […] [bereits] sehr vielfältig“ sei.


Am 24. Februar 2022 war es dann so weit: Nach 8 Jahren der russischen Eskalation im Osten der Ukraine, nach der Annexion der Halbinsel Krim und nach der Unterstützung prorussischer Separatisten im Donbass, ging Russland einen Schritt zu weit. Nach einem monatelangen Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze und unzureichenden Bemühungen des Westens, die Eskalation zu verhindern, fielen Heeressoldaten mit Luftunterstützung durch Fallschirmjäger aus Belarus in die Ukraine ein.


Russland begann seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, auf den die Weltöffentlichkeit nun reagieren musste. So waren auch die Grünen mit ihrer pazifistischen Ausrichtung in Handlungsnot. Ihre Politik sollte sich grundlegend verändern.


Die Kehrtwende

Nach einigen Erstgesprächen in Regierungskreisen äußerte sich Annalena Baerbock erstmals in einem abendlichen Interview mit dem ZDF zu möglichen Waffenlieferungen. Sie sehe die Lieferung von den zurzeit diskutierten Haubitzen aus NVA -Beständen als militärisch sinnlos an und werde ihr nicht zustimmen. Was nicht an die Öffentlichkeit gelangte: Schon am nächsten Tag forderte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck koalitionsintern die sofortige Lieferung von Waffen aus deutscher Produktion zur Unterstützung der ukrainischen Selbstverteidigung. Die politische Geschlossenheit der Grünen begann bereits nach zwei Tagen realer Krise zu wanken. Schon am nächsten Tag, dem 26.02.2022, wurden diese Forderungen teilweise erfüllt. Die Bundesregierung entschloss sich, die Lieferung von D-30 Haubitzen und Munition aus von der NVA an Estland übergegangenen Beständen zu genehmigen. Des Weiteren wurde den Niederlanden die Lieferung von Panzerabwehrwaffen gestattet, zu der auch Deutschland aus eigenen Beständen beitrug. Zudem wurden auch 500 „Stinger“ Boden-Luft-Raketen beigesteuert. Die Tradition der umfangreichen Exportverbote war gebrochen und der grüne Pazifismus ließ sich in der Ampel-Koalition kaum mehr erkennen. Die Parteiführung begann zu verstehen, dass echte Realpolitik á la Joschka Fischer notwendig ist, um mit den Herausforderungen unserer Zeit und wildgewordenen Diktaturen umzugehen.


Allerdings kehrte zunächst Unentschlossenheit in die Regierung zurück: Kann die Ukraine den Krieg gewinnen, droht eine weitere Eskalation von russischer Seite, müssen die Sanktionen ausgeweitet werden? In Anbetracht dieser Fragen blieben weitere Waffenlieferungen zunächst aus. Das musste die mittlerweile pragmatisch ausgerichtete grüne Parteiführung ärgern, weshalb die Außenministerin bereits im April öffentlich die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine forderte. „Kreativität und Pragmatismus“ wären nun gefragt. Selbst der durch diese Aussage ausgelöste öffentliche Druck bewegte das Kanzleramt allerdings nicht dazu, eine Lieferung durchzuführen. Die Außenministerin musste sich in Geduld üben und interne Verhandlungen weiterführen, während ukrainische Soldaten im Stich gelassen starben. Erst am 26.04.2022, nach einem Treffen der „Ukraine Defence Contact Group“, einem „Koordinierungsgremium der westlichen Partner […] zur Unterstützung der Ukraine […]“, hatte sie Erfolg. Auf vereinten Druck der Opposition und der Koalitionspartner erfüllte Kanzler Olaf Scholz schließlich die ukrainischen Wünsche nach schweren Flugabwehrpanzern vom Typ „Gepard“ und rettete damit unter anderem vielen unschuldigen Zivilisten in Kyiv das Leben.


Auf diese ersten Waffenlieferungen sollten in den darauffolgenden Monaten noch viele weitere folgen: Die Ukraine erhielt verschiedene Systeme zur Aufklärung, Kommunikation und zusätzliche Munition für ihre Geschütze. Weitere Tabubrüche blieben zunächst aus: Deutschland hatte mit den Folgen der Energiekrise zu kämpfen, Habeck musste die Versorgungssicherheit in Anbetracht der mehrheitlich russischen Gaslieferungen wiederherstellen. Wie die Gesprächssituation innerhalb der Regierung aussah, lässt sich nur mutmaßen. Es wird Forderungen nach erweiterten Waffenlieferungen gegeben haben, die allerdings von den innenpolitischen Problemen überlagert wurden.


Eine weitere deutliche Positionierung Baerbocks fiel nur aufmerksamen Zuschauern des G20-Außenministertreffen auf Bali auf. Gegenüber dem russischen Außenminister Sergej Lawrow verhielt sich die Außenministerin abweisend. Keine Gespräche unter vier Augen, kein öffentliches Händeschütteln, kein Gruppenfoto: Die ursprüngliche Pazifistin setzte im Angesicht eines Laufburschen des Kriegsherrn in Moskau auf Waffen statt Worte. Zudem empörte sie sich im Abschlussinterview am 22.07.2022 öffentlich über die fehlende Gesprächsbereitschaft von russischer Seite. Ein kleiner PR-Sieg.


Während Habeck sich im weiteren Kriegsverlauf mit öffentlichen Aussagen zu Waffenlieferungen eher zurück hielt und sich auf die schwierigen energiepolitischen Aufgaben als Wirtschaftsminister konzentrierte, hielt Baerbock weiter an ihrer Befürwortung der Lieferung von Waffen für die Ukraine fest.


Nachdrücklich forderte sie intern weitere Unterstützung der Ukraine, auch mit Kampfpanzern vom Typ „Leopard 2“, dem Prachtstück des deutschen Heeres. Auch diese Forderung sollte schließlich am 25. Januar 2023 erfüllt werden, als der Regierungssprecher die Lieferung einer Kompanie (14 Panzer) ankündigte. Auch europäische Partner würden sich an der Aktion beteiligen. Die ukrainische Führung war erleichtert, die Verteidigung konnte weitergeführt werden, Russland erlangte nicht die Überhand und an einen Sturz der ukrainischen Regierung war nicht mehr zu denken. Die westliche Unterstützung erhielt den ukrainischen Staat.


Realpolitik

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat hauptsächlich eines gezeigt: Ideologiegetriebene Politik funktioniert nur in entspannten (welt-)politischen Lagen, kommt in Krisensituationen allerdings schnell an ihre Grenzen. Die Grünen waren zu Anfang der russischen Invasion hauptsächlich an ihrer Basis orientiert, pazifistisch ausgerichtet und suchten stets nach diplomatischen Lösungen. Zuerst die Genehmigung von Waffenlieferungen anderer Länder, daraufhin die eigene Bereitstellung. Die leichten Waffen zur Panzer- und Luftabwehr, schließlich auch schwere Flugabwehr- und Kampfpanzer, sowie weiteres Material wurden der Ukraine zur Verfügung gestellt. Die Grünen haben die 5,4 Milliarden Euro militärischer Unterstützung (Stand 01.12.2023) maßgeblich mitgetragen und sich damit mutig gegen ihre traditionell pazifistischen Werte gestellt.


Die pragmatische Realpolitik der Partei unter der Führung von Baerbock hat maßgeblich dazu beigetragen, das Überleben des ukrainischen Staates, seiner Armee und der Zivilbevölkerung zu sichern. Die Grünen haben sich an die Krisensituation angepasst und es geschafft, ihre Wähler von der Solidarität mit der Ukraine zu überzeugen.

Die Politik der Grünen wird von diesem kleinen Schuss Realpolitik profitieren, sollte sie nicht in ideologiegetriebene Forderungen zurückfallen. Aktuelle Sorgen der deutschen Bevölkerung wie Migration, Energiewende und steigende Lebenserhaltungskosten darf die Partei auch nicht aus den Augen verlieren, um politisch erfolgreich zu sein.

Allerdings ist dieser politische Wandel auch aus der Sicht der Meinungsforschung beeindruckend. Laut dem kanadischen Psychologen und Kognitionswissenschaftler ist eine der häufigsten kognitiven Verzerrungen, die unsere Rationalität bedrohen, der „My-Side-Bias“. So würden Befürworter einer These diese häufig nicht kritisch hinterfragen. Dieses Verhalten sei dabei unabhängig von persönlichen Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft, Bildungsstand oder Intelligenz. Sie würden Fakten gezielt auswählen, um ihre Meinung zu stützen und dabei Widersprüche ignorieren. Zudem würden sie der anderen Seite aus eigener Überzeugung Irrationalität und Faktenferne vorwerfen, wobei sie gerade unter derselben leiden.


Kritischer Rationalismus

Die Grünen haben sich allerdings grundlegend anders verhalten. Ihre ursprünglich pazifistischen Überzeugungen wurden nicht mit verdrehten Fakten und gegen jede Gegenstimme beibehalten. Viel mehr haben sie es geschafft, sich ihren eigenen kognitiven Verzerrungen zu widersetzen und zum geforderten Pragmatismus zurückzukehren. Das bedeutet, sie haben sich entgegen allen Hindernissen wie „kritische Rationalisten“ nach Karl R. Popper verhalten. Diese würden nämlich ihre Meinungen kritisch hinterfragen und Argumente der anderen Seite in Betracht ziehen. Sollten diese besser sein als die eigenen, würden kritische Rationalisten ihre Meinung anpassen. Diese Einstellung verkörperten die Grünen. Sie überwanden ihr Lagerdenken als traditionell pazifistische Partei und passten sich den Anforderungen des Krieges, einer echten Krisensituation, an. Ein solches Verhalten ist besonders heute notwendig, da die Debattenkultur in politischen Auseinandersetzungen dazu tendiert, die andere Seite zu verteufeln, statt echte Lösungen für Probleme zu finden. Sich dazu zu überwinden, das eigene ideologische Lager zu verlassen und realpolitisch zu handeln, auch wenn dabei traditionelle Prinzipien wie der Pazifismus über Bord geworfen werden müssen, zeugt von echter Anpassungsfähigkeit und führt zu besseren Ergebnissen als ideologiegetriebene Meinungsmache.


Die Verhaltensweisen der Grünen sind also sowohl aus weltpolitischer als auch aus der Perspektive der Meinungsforschung beeindruckend und sollten als Vorbild für nachfolgende Politiker wirken.


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