Von Leonard Püschel - Endlich mal kein angestaubtes Buch in alter Sprache. Endlich mal eine Lektüre zu einem aktuellen Thema in verständlicher Sprache. Doch statt einem Roman mit spannenden Kontroversen, lesen wir Schüler Niedersachsens ein Buch über einen Pensionär, sein einlullendes Leben und seine Erfahrungen mit Flüchtlingen, die die Realität bis zur Utopie verzerren.
In Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“ wird der Protagonist Richard auf den Hungerstreik einiger Flüchtlinge auf dem Oranienplatz aufmerksam. Als er erfährt, dass sie nun in einem Heim untergebracht werden, beschließt er, sein leeres einsames Leben, da er nun emeritierter Professor ist, wieder zu füllen, und besucht die Flüchtlinge. Er stellt ihnen Fragen, knüpft Freundschaften und macht mit ihnen gemeinsame Erfahrungen. Und zwischendurch geht er einkaufen, frühstückt und denkt über Dinge nach, die mit den Flüchtlingen eigentlich gar nichts zu tun haben, was alles leider deutlich zu viel Platz im Buch einnimmt und teilweise, jedenfalls bei Schülern, zu Langeweile beim Lesen führt.
Am Ende des Romans haben sich, passend zu der Thematik, die das Buch, behandelt, alle lieb und es gibt Friede, Freude, Eierkuchen. Wie geht Erpenbeck nun ein so brisantes und kontroverses Thema an? Sie erschafft einen analytischen, aber sensiblen Protagonisten, nämlich Richard. Er ist ein emeritierter alleinstehender Professor. Seine Frau ist seit einiger Zeit gestorben und seine Geliebte hat ihn verlassen. Er ist ein tiefgründiger und introvertierter Mensch, der viel nachdenkt, zum Teil über banale Dinge, aber auch über manch wirklich interessante Lebensweisheiten.
Dies geht einher mit dem Stil des Werks. Erpenbeck geht sehr viel ins Detail, schildert Richards Gedankenwelt, seine Ost-Vergangenheit. Sie verwendet dabei viele Parataxen, woraus sich ein netter, sanfter und gemütlicher Stil ergibt, der durchaus, wie die Rezensentin Hannah Lühmann herausstellt, das gewisse Etwas hat, aber als Zielgruppe nicht die Schüler erreicht. Interessant ist aber, dass sich Thematik und Stil so konträr gegenüberstehen. In „Gehen, ging, gegangen“ wird ein hoch brisante und aktuelle Debatte behandelt. Man könnte meinen, der Protagonist biete eine gute Grundlage, die Flüchtlingskrise weder moralisierend aus der Perspektive eines Flüchtlings selbst noch aus der Perspektive eines fremdenfeindlichen Deutschen darzustellen, sondern differenziert und in all ihrer Komplexität und Sensibilität zu betrachten, doch weit gefehlt: Jenny Erpenbeck schreibt einen Roman, den die blinden Linken vergöttern und die Rechtspopulisten verbrennen. Und die Mitte schüttelt den Kopf und merkt, wie sich die Gesellschaft weiter spaltet.
Die Flüchtlinge werden sehr positiv dargestellt: Jeder von ihnen ist engagiert, jeder von ihnen will arbeiten, mancher so sehr, dass er statt „Walk“ nur „Work“ versteht, keiner von ihnen bringt auch nur irgendwelche Probleme mit sich. Das ist realitätsfern. Längst ist klar, dass Integration mit Problemen verbunden ist, und zwar von beiden Seiten: Knapp die Hälfte der türkischen Einwanderer finden die Religion wichtiger als das Grundgesetz, ca. 62 Prozent der Deutschen meinen in einer Umfrage, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Das soll nicht heißen, dass es so einen idealtypischen Fall der Integration wie in „Gehen, ging, gegangen“ nicht geben kann, keinesfalls, aber so moralisierend, wie der Roman geschrieben ist, scheint es, als würde einem vermittelt werden wollen, dass alle Flüchtlinge gut und alle Deutschen böse sind.
Das Buch ist also alles andere als ein „gründlich recherchierter Tatsachenroman“, so wie es Friedmar Apel in der FAZ beschreibt. Dadurch, dass das Buch so wenig differenziert, ergeben sich weitere Probleme: Erpenbeck erreicht durch ihre Utopie genau das Gegenteil, von dem, was im Buch wirklich wichtig ist. Zu Recht übt sie Kritik an der aufwendigen Bürokratie und Dublin II. Zu Recht übt sie Kritik an der teils ignoranten, dekadenten und intoleranten Mehrheitsgesellschaft. Und zu Recht übt sie Kritik daran, dass in den hitzigen Debatten die Menschenrechte nicht selten vergessen werden. Doch durch ihre Idealisierung drückt sie dem Publikum eine Leseschablone in die Hand, mit dem es nach Differenzierung sucht, aber nicht findet und deswegen jegliche guten Punkte des Romans ablehnt, wenn nicht sogar ausblendet.
Das ist kontraproduktiv. Was man Erpenbeck jedoch zugutehalten muss: Zum einen ist der Roman kein Politikaufsatz, sondern immer noch Literatur. Das Buch beschäftigt sich ja längst nicht nur mit der Flüchtlingsdebatte, sondern auch mit anderen tiefgründigen Themen, wie z.B. den Umgang mit der Zeit im Rentenalter oder Einsamkeit. Hier lassen sich aber auch generelle Probleme von engagierter Literatur ableiten, die sich durch ihre politischen Botschaften und ihre literarische Kunst auszeichnet und damit auch ganz verschiedene Zielgruppen erreicht. Der Rezensent Margenau schreibt: „Hätte eine Reportage ohne fiktives Mäntelchen nicht mehr erreichen können?“ Dann können wir uns aber generell vom Konzept der engagierten Literatur verabschieden. Zum anderen wurde der Roman in einer Zeit verfasst, in der die Flüchtlingskrise von 2015 noch gar nicht „ausgebrochen“ war. Die Sensibilität und die Kontroverse des Themas kann Erpenbeck im Schreibprozess also noch gar nicht so bewusst gewesen sein.
Trotzdem hatte sie genug Gelegenheiten, politisch einseitig Dargestelltes wieder geradezurücken. Doch stattdessen „vermag sie es (in einem Interview) nicht zu wissen, ob der Roman 'Gehen, Ging, Gegangen' einen Beitrag zur politischen Debatte darstellt“. Außerdem soll „der Protagonist Richard als analytischer Charakter zu einer neutralen Bestandsaufnahme dienen“. Hallo? Geht´s noch? Kurzum: Auf literarischer Ebene ist der Roman für nach Harmonie strebende und tiefgründige Menschen mit einem Sinn fürs Detail durchaus eine Empfehlung wert. Für politisch Interessierte nicht. Somit bleibt der Roman hinter den Erwartungen, ein aktuelles Thema ansprechend und differenziert zu behandeln, zurück.
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