Von Adrian Dittrich - Mit jeder Wahl schwinden Stimmanteile und die Bedeutung der politischen Urparteien geht zurück; doch ist das eine Gefahr für unsere Demokratie? Adrian Dittrich erklärt, warum das natürlicher ist, als wir bisher oft dachten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, im Gespräch.
Bild: Kay Nietfeld/dpa
Schlichte Verzweiflung im Überlebenskampf zeigte sich bei einzelnen Mitgliedern der beiden Volksparteien CDU und SPD im Dezember. Während Ralf Stegner von der SPD einen langfristigen Zusammenschluss mit der Linken als notwendig betrachtete, gingen 24 CDU-Bundestagsabgeordnete sogar so weit, offen für eine Änderung des Wahlsystems zu plädieren. Diese würde der Erststimme mehr Bedeutung einräumen und damit die Sitzverteilung zugunsten der großen Parteien verschieben, ohne dass neue Wähler dazugewonnen werden müssten. Mit jeder Wahl schwinden Stimmanteile und die Bedeutung der politischen Urparteien geht zurück; doch ist das eine Gefahr für unsere Demokratie?
Über kurz oder lang werden die CDU und die SPD flächendeckend von ihrer politischen Führungsrolle abgelöst werden und vorerst nur noch Nebenspieler auf der politischen Bühne sein. Und das ist natürlicher, als wir bisher oft dachten. Die Verhältniswahl mit vielen verschiedenen Parteien macht innerparteiliche Veränderungsprozesse langwierig und uninteressant. Entsteht eine Repräsentationslücke und ein neuer politischer Ansatz kommt auf, ist es ein zäher und schwieriger Weg, diesen in einer bestehenden Großpartei zu verankern. Zumal in der jüngeren Vergangenheit immer öfter der offene, innerparteiliche Diskurs zugunsten der Harmonie kleingehalten wurde. Schneller vorstoßen lässt es sich da mit einer eigenen Bewegung mit neuem Profil, die es letztendlich bis zu einer eigenen Partei schaffen kann.
Ein historisches Beispiel dafür sind die Grünen: In ihrer Gründungszeit wäre es unvorstellbar gewesen, die Forderungen in den Programmen von CDU oder SPD unterzubringen. Es hat weitere Jahrzehnte gedauert, bis beide Volksparteien die Bedeutung der grünen Themen für die Gesellschaft erkannt haben und ansatzweise in ihre Profile mit aufgenommen haben. Heute sind diese Themen gesellschaftlich sehr im Fokus und die Grünen damit zum aussichtsreichen Regierungsanwärter aufgestiegen.
Natürlich bleiben aber auch regierende Parteien nicht ohne Veränderung. Die CDU ist mehr in die politische Mitte gerückt, da der politische Konservatismus aus den ersten Jahren der Bundesrepublik so heute weniger gefragt ist. Die SPD musste neue Wählergruppen ansprechen und sich dafür von einzelnen sozialdemokratischen Werten distanzieren. Oft wird ihr gerade das zum Vorwurf gemacht und als Grund für den Bedeutungsverlust ausgemacht. Dabei wird vergessen, dass es die typische SPD-Wählerschaft aus der Mitte des 20. Jahrhunderts in ihrer damaligen Form auch nicht mehr gibt. Ein „Arbeiter“ aus heutiger Zeit hat eine andere Arbeit, einen anderen Lebensstil und damit auch neue Anforderungen an die Politik. Andersherum betrachtet müssen wir daher erkennen: Ohne Veränderungen und Profil hätte es vielleicht schon eher andere Parteien in der Regierung gegeben.
Ganz genauso verhält es sich mit den gesellschaftlichen Themen. Es ist ein hoher Verdienst von CDU und SPD der vergangenen Jahrzehnte, dass Deutschland ein starkes Sozialsystem und eine stabile Wirtschaft hat. Aber die Zeit bringt neue Themen mit sich und damit neue Vordenker in diesen Bereichen. Alles hat seine Zeit – für Themen des Klimaschutzes oder der Digitalisierung gibt es mittlerweile einfach authentischere Vertreter im Parlament, denen die Regierung unseres Landes auch zugetraut wird. Wir Deutsche hängen an unseren Gründungsparteien. Politische Legenden aus CDU und SPD haben jetzt 70 Jahre den Regierungsvorsitz gehalten.
Doch nun müssen wir uns freimachen von dieser Nostalgie und Offenheit für neue politische Strömungen in unserer lebhaften Demokratie zeigen. Nur so bleibt Politik lebendig und bietet ernsthafte Alternativen. Das ist das Wichtigste, um dem aufsteigenden Populismus entgegenzuwirken und Politikverdrossenheit zu verhindern.
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