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Eine Utopie, die zur Reflexion anregt

Von Adrian Dittrich - Flüchtlingskrise. Mittlerweile ist dies wohl jedem ein Begriff geworden und vielleicht fühlt man sich mehr überrollt von der unausweichlichen Nachrichtenflut als von der Krise selbst. Jenny Erpenbeck tritt mit ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ nun der Debatte bei und verarbeitet das Brennpunktthema aus einer ganz neuen literarischen Perspektive.


Dabei versucht Erpenbeck mit allen verfügbaren Mitteln der Literatur, sich von der herkömmlichen Betrachtung zu lösen und strebt vielmehr nach einer Selbstreflexion der Deutschen und ihren Eigenarten – von den Schattenseiten der Wiedervereinigung über Bürokratie bis Adolf Hitler („he killed people?“) – kein geschichtlicher Zeitabschnitt und oder negativer Charakterzug der Deutschen bleibt unbeachtet. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht Richard, ein Musterbeispiel der deutschen Routine, Langeweile – und: Weltoffenheit.

Entgegen aller Erwartungen an diesen Flüchtlingsroman ist es ausgerechnet er, der den größten menschlichen Wandel vollzieht. Von einem Leben in Abgeschiedenheit und Eintönigkeit wird der Pensionär Richard zu einem Kumpeltyp der Flüchtlinge und einem Weltretter inklusiv eigener Multi-Kulti-WG im konservativen Ambiente seines Hauses. Zeitweise fühlt sich der Leser dabei überfordert von der grenzenlosen Hilfsbereitschaft, die leicht als eigene Handlungsaufforderung verstanden werden kann. Keine Sorge. Die Verbreitung von Flüchtlings-WGs in Deutschland wird wohl auch Erpenbeck kaum erwartet haben; vielmehr handelt es sich um eine Utopie, die Grundlage neuer Debatten werden kann. Eine Utopie, die zur Beschäftigung mit einer der wichtigsten Fragen unserer Zeit verleitet und vielleicht sogar den einen oder anderen zum Überdenken seiner eigenen Weltanschauung verleitet.


Abgesehen davon überzeugt „Gehen, ging, gegangen“ durch seine sachlich fundierte Aufarbeitung von Dublin II, dem Berliner Oranienplatz-Abkommen usw., wodurch endlich auch rechtliche Grundlagen der Politik deutlich werden. Zweifelsohne ein Gewinn für den politischen Diskurs. Ein Roman im klassischen Sinne ist Erpenbecks Werk aber sicher nicht. Wer für den Urlaub nach einer leichten Strandlektüre sucht, dem sei abgeraten vom diesem Buch, dessen gute Intention unter den unzähligen Mehrdeutigkeiten und Symbolen fast begraben wird. „Gehen, ging , gegangen“ ist nichts für „Zwischendurch“, sondern liest sich am besten in ruhigen Momenten. Erpenbecks Schreibstil ist definitiv ungewohnt und man überlegt schnell, warum man seine Zeit für die Lektüre von Belanglosigkeiten wie Richards Einkaufszettel aufwenden soll. Doch nicht davon abschrecken lassen und Zeit dafür nehmen: Es lohnt sich!

Viele Symbole, wie der einprägsame „Tote im See“ oder die Szenerie der Kreuzberger Schule, erschließen sich erst beim Nachdenken über diese Passagen, beim zweiten Lesen. Vielleicht auch erst beim dritten. Oder fünften. Doch vieles in diesem Werk hat wirklich Konzept. Der kryptische Titel, der in Verbindung mit dem Traumfänger-Cover noch wirklich nichts über das Thema aussagen kann, entlarvt sich später als wiederkehrendes Motiv auf gehobener literarischer Ebene, das Vergänglichkeit, Zeitverlust, aber auch die Schwierigkeiten beim Lernen der deutschen Sprache aufgreift und dem Leser in anfänglicher Tarnung später elegant vermittelt wird.

Das „Buch der Stunde“ – so wird es gerne rezensiert – ist dadurch sicher nicht für jeden etwas, aber jeder sollte ihm zumindest eine Chance geben, auch wenn die ersten Kapitel zunächst abschreckend wirken (die Wertschätzung entwickelt sich erst später). Der moderne Collagestil verdient es, erkundet zu werden und die Flüchtlingskrise kann fundierte Debatten und etwas weniger Berührungsängste sehr gut gebrauchen. Genau wie Richard sich der doppelten Herausforderung stellt, eigene Routine abzulegen und sich anderen Kulturen, auch zuwider der Kritik seiner Freunde, zu öffnen, muss auch der Leser sich einer doppelten Herausforderung stellen: er muss sich bewusst dem modernen Schreibstil und ebenso bewusst dem Thema Flüchtlingskrise öffnen. Dieses Bewusstsein ist es dann auch – was den Unterschied macht zu der Nachrichtenflut, die bei allem Leid mittlerweile eher Gleichgültigkeit als Empathie erzeugt.

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