Während einer Zugfahrt führte Johanna Tapper ein Gespräch mit einem strenggläubigen, jungen Muslim. Eine Reflexion über den Reiz des Glaubens in einer säkularen Welt und die Notwendigkeit einer humanistischen Religionskritik.
Im Wagon sitzen um diese Uhrzeit nur noch wenige Fahrgäste, meine Sachen liegen über mehrere Sitze verteilt. Eine Frau schläft. Draußen dämmert es, für die meisten Mitfahrenden geht es wohl gerade nach Hause. Neben mir auf der anderen Gangseite sitzen zwei junge Männer auf einem Vierersitz und unterhalten sich.
„Es ist einfach eklig“, sagt der Linke und verzieht das Gesicht. Er hat dunkle Locken, für deren Bändigung er ein Haargummi am Handgelenk trägt. Er spricht brüchiges Deutsch und will sich nur schwer überzeugen lassen. „So darfst du nicht reden“, entgegnet sein Gegenüber, sichtlich bemüht, es trotzdem zu versuchen. „Kein Mensch ist eklig. Du kannst sagen, dass sie eine schlechte Vergangenheit hat, dass sie gesündigt hat. Wenn sie bereut, musst du ihr verzeihen.“
Ich höre dem Gespräch der beiden Männer seit einer Weile zu. Sie sehen unterschiedlich aus. In Fahrtrichtung der dunkelhaarige Lockenkopf, modern gekleidet, bedacht frisiert. Ihm gegenüber sein etwas nerdig aussehender Begleiter. Längere blonde Haare und Bart, dabei aber zu unmoderne Kleidung, als dass die Frisur als hipstermäßig durchgehen könnte. Im Gespräch der beiden geht es um die Freundin des Dunkelhaarigen. Eklig nennt er sie, weil sie schon vor ihrer Beziehung Sex hatte, keine „Jungfrau“ mehr ist. Beide sind Mitglieder derselben islamischen Gemeinde, höre ich aus dem Gespräch heraus.
Was ich bis zu diesem Zeitpunkt über den Glauben der beiden mitbekommen habe, kommt mir so realitätsfern vor, dass ich das nicht so stehen lassen will. Doch ein Gespräch anzufangen, kostet mich mehr Überwindung, als mir lieb ist. Aus dem Nichts heraus die Meinung zu einem so privaten Thema anzufordern, dazu noch in einem Zugabteil, fühlt sich übergriffig an. Ich zweifle daran, dass die Beiden überhaupt zu einer Diskussion bereit sind. Und wie viel Offenheit und Toleranz darf ich mir bei zwei jungen Männern erhoffen, die ernsthaft zu fordern scheinen, dass Frauen bis zur Ehe Jungfrau bleiben? Riskiere ich, beschimpft zu werden? Mir fällt umso stärker auf, wie wenig andere Fahrgäste noch im Wagen sitzen. Oder muss ich mir vorurteilsbehaftet vorkommen, weil mir solche Gedanken in den Sinn kommen?
Foto: Ayesha Firdaus / Unsplash
„Entschuldigung, ich habe Ihr Gespräch am Rande mitbekommen. Kann ich Ihnen vielleicht ein paar Fragen stellen?“ Ein Nicken. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn duzen oder siezen soll, wenn ich ihn auf seine Religion anspreche. Er ist nicht sonderlich viel älter als ich, das „Sie“ wohl eher ein Versuch meinerseits, etwas Distanz zu wahren. „Sie sind zum Islam konvertiert?“ Er nickt zustimmend und scheint zu ahnen, worauf ich hinaus will. Die Skepsis, die ich ihm entgegen bringe, ist er vermutlich aus seinem Freundes- und Familienkreis gewohnt.
Wohl aus dem Impuls heraus, seinen Glauben verteidigen zu wollen, redet er in hastigen Sätzen von den alten islamischen Bibliotheken, in denen jahrhundertelang das wertvollste Wissen der Welt gespeichert wurde und von der Kunst. Das Bild, das er vom Islam zeichnet, ist das einer Religion der bedingungslosen Liebe und Anerkennung und der Vergebung der Sünden. Er ist sehr überrascht, dass ich mit all dem etwas anfangen kann und kann kaum glauben, dass wir in der Schule differenziert über verschiedene Religionen aufgeklärt werden. Seiner Erfahrung nach wurde der Islam in der Schule nie thematisiert, höchstens schlechtgeredet. Fehlendes Wissen über den Islam in der Bevölkerung und Unterrepräsentation von Muslim*innen in Medien und Politik sind tatsächlich immer noch real existierende Hindernisse für die Integration von muslimischen Einwander*innen in Deutschland. Nur auf Basis dieser Desinformation können Parteien wie die AfD mit irrationaler Islamophobie Wahlkampf machen. Ich bin dennoch skeptisch: Gläubig zu sein und für Religionsfreiheit einzustehen ist eine Sache. Vor hunderten von Jahren niedergeschriebene Verse und Gebote wörtlich zu nehmen, eine andere.
In der Kernbotschaft unterscheiden sich Islam und Christentum kaum voneinander. Als ich diese Parallele ziehe, verzieht er das Gesicht. „Weißt du, wir erkennen das Christentum an. Jesus ist für uns aber nur ein Prophet und die Bibel eine verfälschte Überlieferung des Korans.“ Aber hält er den Islam denn für die einzige Möglichkeit, die richtigen Wertvorstellungen zu vermitteln? Es müsse schließlich nicht jeder muslimisch sein, um moralisch zu handeln, werfe ich ein. „Sicher kann man auch Weisheiten von Menschen annehmen, aber wir sind alle unwissend und voller Sünde und müssen deshalb auf Allah vertrauen. Wenn nicht Allah weiß, was richtig ist, wer dann?“ Er erzählt weiter, wie er zu seiner Glaubensentscheidung kam: Vor einiger Zeit habe er den Koran privat gelesen, plötzlich habe alles für ihn einen Sinn ergeben: Als hätte er den Ursprung von Leid und Missgunst und das Rezept für eine bessere Welt gefunden. Der Mensch quäle sich mit Entscheidungen, versuche das Unheil der Welt zu beenden und mache doch alles falsch, dabei lag doch die Gebrauchsanleitung für dieses Leben in jedem Buchladen aus, diktiert von Allah höchstpersönlich! Es dauerte nicht lange, bis es ihn regelmäßig in die Moschee zog, er kaufte neue Kleidung, ließ sich einen Bart wachsen.
Junge Konvertit*innen aus Deutschland und anderen westlichen Ländern haben unterschiedlichste Gründe für ihre Entscheidung. Das haben die Anthropologin Esra Özyürek in ihren Forschungen und die Journalistin Susanne Kaiser in ihrem Buch Die neuen Muslime – warum junge Menschen zum Islam konvertieren untersucht. Die zahllosen Türen, die eine freie Wohlstandsgesellschaft öffnet, können leicht zu einem verwirrenden und ausweglosen Labyrinth werden, in dem strenge religiöse Regeln und Rituale mit Halt und Perspektive locken. Religion wird so zur Schwimmhilfe im Ozean der Eigenverantwortung, Unterwerfung als Fluchtversuch vor der Überforderung in einer komplexen und vielschichtigen Welt. Das morgendliche Beten gibt dem morgendlichen Aufstehen einen Sinn, die Drogenverbote helfen, vom Kiffen loszukommen, einzelne junge Frauen sehen in der Verschleierung die Befreiung von westlichen Schönheitsidealen und Perfektionswahn. Die Untersuchungen der beiden Autorinnen zeigen, dass Konvertit*innen im Großen und Ganzen die religiösen Rituale und Regeln mit mehr Strenge und Disziplin verfolgen als gebürtige Muslim*innen.
Der junge Mann im Zug ist in der Gruppe der geschätzten 10 000 bis 20 000 deutschen Konvertit*innen trotzdem eine Ausnahme. Denn der Großteil der jungen Menschen, die sich für die Ausübung des Islam entscheiden, legten, so Özyürek, auch sehr großen Wert auf Modernität und Gleichberechtigung, auf die Vereinbarkeit der westlichen und islamischen Werte. Sie sind also in der Interpretation des Korans weit weniger konservativ als in der Religionsausübung. Einen Fehler macht deshalb, wer in Konvertierten grundsätzlich zurückgelassene Opfer der Gesellschaft sieht, die der Religion als einer Betäubung für grundlegendere Probleme verfallen sind. Strenggläubigkeit korreliere nicht notwendigerweise mit Radikalität, in diesem Punkt spiele Ausgrenzung und Abneigung eine viel größere Rolle, das betont Özyürek. Der Islam beantworte diesen Menschen die Sinnfrage des eigenen Lebens. Das ist in den häufigsten Fällen nichts anderes als hilfreich und wohltuend.
Ich frage meinen Gesprächspartner, was er von freien islamischen Gemeinden hält, die eine moderne, aufgeklärte Form des Islam praktizieren. Ich meine damit zum Beispiel die 2017 gegründete Ibn Rushd Goethe Moschee in Berlin, oder den noch länger existierenden Liberal-Islamischen Bund (LIB), dessen Gemeinden inzwischen etwa 230 Gläubige angehören. Beide Gruppierungen wollen eine Alternative zur traditionellen Religionsausübung darstellen, schaffen Freiräumen und fokussieren sich auf neue Lesarten des Korans. Kopftuch tragen ist freiwillig, Männer und Frauen beten in einem Raum.
Von solchen Gemeinden habe er noch nie etwas gehört, sagt mein Gesprächspartner. „Wer schon ein Wort aus dem Koran nicht mehr annimmt, der kann kein Muslim mehr sein.“ Ich stimme ihm da absolut nicht zu. Man müsse doch den zeitlichen Hintergrund betrachten, vor dem der Koran formuliert wurde, gebe ich zu bedenken. Heute sei doch vieles nicht mehr zeitgemäß. Mein Gegenüber schüttelt den Kopf. „Weißt du, Allah hat den Koran nicht nur für die Zeit Mohammeds geschrieben. Sondern für die Ewigkeit. Menschliche Überzeugungen ändern sich alle 100 Jahre, aber wir wissen einfach nicht, was am besten für uns ist. Wir können Allah nicht verstehen.“ Er vergleicht den Menschen mit einem Kind, dass geimpft werden soll und im Angesicht der Spritze zu weinen anfängt, weil es den Schutz der Impfung nicht begreifen kann. Und doch müssten wir darauf vertrauen, dass jemand Klügeres, Höheres weiß, was gut für uns ist. „Guck dich doch um“, sagt er. Das Unheil in der Welt spräche für sich, man könne an jeder Straßen ecke sehen, was Menschen anstellen, wenn sie nicht von Allah geleitet werden.
Ich frage ihn nach einem Beispiel. Würde denn der reine Glauben an die islamischen Werte für das Ausleben der Religion nicht reichen? Was hat denn das Kopftuch als Kleidungsvorschrift für einen weltverbesserungstechnischen Mehrwert? Auch für Männer gäbe es Kleidungsvorschriften, genauso viele wie für Frauen, argumentiert er. „Allah will, dass wir unseren Blick senken, dass wir beschämt sind. Manche Muslime glauben, es zählt nur, was im Herzen ist, aber das stimmt nicht. Es zählt auch, was äußerlich ist“. Dass wir beschämt sind, soso, denke ich. Mit der gleichen Strategie konnte man im Mittelalter unzählige Ablassbriefe verkaufen.
„Stört es dich denn zum Beispiel, dass ich hier ohne Kopftuch sitze?“, frage ich ihn. „Wenn eine Muslima das Kopftuch nicht trägt, dann würde ich sie trotzdem weiter lieben, und Allah auch, denn es ist nur natürlich, dass sie sündigt. Ich würde ihr verzeihen. Aber es macht dich unglücklich, Sünde hat Konsequenzen für die eigene Person.“ Meinem Eindruck nach funktioniert sein Denken nach dem folgenden Muster: Ihm selbst geht es mit dem strengen Befolgen der islamischen Glaubensregeln besser, das Leid seiner Mitmenschen muss auf ihren Unglauben zurückzuführen sein. Er sagt jedoch auch: „Es bringt doch nichts, Andere zum Glauben zu zwingen. Was Nichtmuslim*innen betrifft, ist das sowieso etwas ganz anderes. Ich würde dich zum Beispiel nie überreden, ein Kopftuch zu tragen, das würde gar keinen Sinn für mich machen. Denn wenn du im Inneren den Islam ablehnst, machst du damit ja nur nach außen etwas vor.“
Wenn sein korantreuer Glaube Privatangelegenheit bleibt, wenn es ihn glücklich macht, dann sollte ihm das doch erlaubt sein, oder nicht? Was sollte jemand wie ich an solch einem Glauben kritisieren dürfen? Positiv an meinem Gegenüber fallen mir seine Offenheit mir gegenüber auf und sein freundlicher Eifer, seine Sichtweisen erläutern zu wollen. Mein Eindruck ist aber auch: Er ist von dem, was er redet, vollkommen überzeugt, vertraut blind auf die Botschaften des Korans, hinterfragt nichts, ist mit sich und seiner Welt im Reinen. So habe ich trotz der Empfindung eines offenen und interessanten Gesprächs nicht wirklich das Gefühl, mit ihm auf einer argumentativen Ebene zu sein. Weil ich ihn innerhalb meines Weltbildes theoretisch nie überzeugen könnte. Dadurch, dass er davon überzeugt ist, dass der Mensch ohne Allah nicht auf eigene Ideen kommen kann und sich seine Welt nicht aus eigener Kraft zum Guten wenden kann, scheine ich nicht mit Logik oder Vernunft bestechen zu können. Schließlich formuliere ich in seinem Weltbild meine eigenen Überlegungen immer als sündiger und fehlerhafter Mensch, er dagegen wähnt die Allwissenheit Allahs auf seiner Seite. In der Welt meines Gesprächspartners gibt es richtig und falsch, es gibt diejenigen, scheint es, die den Koran richtig auslegen und es gibt die bedauernswerten Unwissenden, die ohne einen Gott herumirren. Wenn richtig und falsch aber nicht mehr verhandelbar sind, wozu hinterfragen, wozu diskutieren?
Ich möchte ihm nicht absprechen, sich bewusst und ausführlich mit den Texten im Koran, der islamischen Tradition und Geschichte auseinandergesetzt zu haben. Aber haben das die Mitglieder seiner Gemeinde? Hat das seine Verlobte, von der er erzählt, sie in den nächsten Monaten heiraten zu wollen? Wer einmal den Verstand für die blinde Unterwerfung eingetauscht hat, wird vermutlich auch nicht mehr erkennen können, wann eine Religion für Machtinteressen instrumentalisiert wird und sich vom eigenen Wesenskern abwendet.
Foto: Anis Coquelet/ Unsplash
Das ist problematisch, gerade in einer Zeit, in der ein Aufstieg der fundamentalistischen Strömung innerhalb des Islams zu beobachten ist. Der Islam- und Migrationsexperte Ruud Koopmanns trug in einem Artikel im Cicero über strukturellen Islamismus erschreckende Fakten zusammen, wie, dass große deutsche muslimische Organisationen, beispielsweise Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion), von nationalistisch-islamistischen Behörden aus dem Ausland finanziert werden. Auch die Mehrheit der praktizierenden Imame wird von diesen Organisationen vermittelt. 2007 sagten 45 Prozent der befragten Muslim*innen in der Studie „Muslime in Deutschland“, durchgeführt im Auftrag des Innenministeriums, die Regeln des Korans seien für sie wichtiger als die Demokratie. Wir können nicht leugnen, dass ein strukturelles Problem mit religiösem Fundamentalismus existiert. Dieser führt in Einzelfällen zu schlimmen, terroristischen Taten. So auch in Frankreich, wo kürzlich ein 18-Jähriger einen Lehrer geköpft hatte, weil letzterer im Unterricht Karikaturen des Propheten Mohammeds gezeigt hatte. Selbst diese Tat hielten Teile der muslimischen Gemeinschaft für gerechtfertigt.
Der Fundamentalismus wird auch dadurch genährt, dass viele Einzelpersonen ihn in abgeschwächter, weniger radikaler aber durchaus überzeugter Form im Alltag vertreten. Wer das nicht kritisiert, kann dieser Entwicklung wenig entgegensetzen. Damit will ich keinesfalls dem Mann im vorwerfen, mit seinem Glauben direkte Verantwortung für religiös motivierte Gewalttaten auf der ganzen Welt zu tragen. Aber wir müssen erkennen, dass antiaufklärerische Religiosität grundsätzlich nicht mehr einfach als Privatsache abgetan werden darf. Wir müssen uns strukturell um den Einklang von Religion und Modernität, Demokratie und Freiheit bemühen. Auch wenn es dem Einzelnen es so psychisch besser gehen mag, unterschwellig wird der über Jahrhunderte errichtete Thron der liberalen Werte angetastet.
Ich denke, dass der antiaufklärerische Glauben meines Gesprächspartners in gewisser Weise unsere liberale Gesellschaft bedroht. Meiner Meinung nach wird eine Religionsauslegung problematisch, sobald sie dem Menschen seinen Verstand abspricht und ihn zu einer Art Marionette degradiert, deren Bewegungen einer göttlich vorbestimmten Wahrheit folgen. Die pluralistische Demokratie, in der jedem Menschen grundsätzlich die Fähigkeit zugesprochen wird, seinen Verstand zu gebrauchen, kann zugegebenermaßen irreführend und kompliziert sein. Aber wenigstens werden die geltenden Regeln ständig adjustiert, Neuentdeckungen gemacht und Fehler eingestanden – mit dem Grundgedanken, das Glück der Menschen stetig zu mehren und das Zusammenleben zu verbessern. Dass sich die Welt mithilfe des aufklärerischen Modells seit dem Mittelalter verbessert hat, ist meiner Ansicht nach völlig unbestreitbar.
In dieser Gesellschaft müssen verschiedenste Religionen einen Platz haben – und können einen großen Mehr-wert für die Gemeinschaft liefern. Aber genauso wichtig wie diese Freiheit ist, dass der Verstand des Menschen hochgehalten wird. Aufklärung und Glauben sollten sich niemals ausschließen, auch nicht im privaten Raum. Eine Religionskritik aus humanistischer Motivation (die sich natürlich an alle Religionsgemeinschaften richtet) ist einerseits essentiell für den Fortbestand unserer liberalen Gesellschaft, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass Religionsausübung weiterhin gesellschaftsfähig bleibt. Wer sich an der Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben stört, sollte für einen kritikfähigen Glauben einstehen.
Der Lockenkopf ist gebürtiger Syrer, er wirkt auf mich wie jemand, der aus Gewohnheit am Glauben festhält. Er sitzt mit Sneakers und Shorts im Zug und will wohl in erster Linie endlich mit dem Zug in seiner Heimatstadt ankommen. An unserem Gespräch nimmt er nicht wirklich teil, hört erst höflich zu, verliert irgendwann die Aufmerksamkeit und tippt auf seinem Handy. Er müsse sich endlich andere Kleidung kaufen, mahnt sein Freund zwischendurch, deutet auf die nackten Knie. Und in eine größere Stadt ziehen, wo es eine Moschee gibt, unbedingt, um Allah näher zu sein. Die Antwort ist ein träges Nicken, ja ja, das wüsste er ja selber, er hätte sich das schon vorgenommen. Ich frage mich, ob er über mich genauso reden würde wie über seine Freundin.
Wäre das Gespräch mit meinem blonden Zugsitznachbarn noch zwei Stunden weitergelaufen, hätte er wohl immer noch auf jede meiner Fragen eine Antwort gehabt. Er hat die Antworten auf alle Fragen der Welt und merkt dabei nicht, dass es nicht seine eigenen sind. Er glaubt, mit mir zu diskutieren, doch mit seinen Glaubensauffassungen kann längst keine Diskussion mehr stattfinden. Er hört mir zu, er lässt mir meine Meinung. Doch nachvollziehen kann er sie nicht. Logik und Vernunft zählen für ihn scheinbar weniger, als seine Gewissheit, dem vermeintlichen Willen Allahs zu folgen.
Comments