Am 30.11. sprach der renommierte Klimaforscher Prof. Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie Hamburg vor und mit Schüler*innen des 11. Jahrgangs über steigende Klimarisiken, Unsicherheiten der Klimaforschung und Übertreibungen in der Klimadebatte.
Schaffen wir es, die globale Erderwärmung auf 1,5-Grad zu begrenzen? Und falls wir es nicht schaffen – sind wir verloren? Dermaßen herausfordernde wie existenzielle Fragen prägen die Klimadebatte und die Klimabewegung junger Schüler*innen zunehmend. Auch die Elftklässler setzen sich im Rahmen des Vernetzten Unterrichts „Schools for Future“ mit diesen und weiteren Themen auseinander. Nun hatten sie die Gelegenheit, einem der renommiertesten Klimaforscher zu treffen.
Zur Person
„Hört auf die Wissenschaft!“, heißt es in der Klimadebatte oft. An der Liebfrauenschule Oldenburg wurde dieses Motto nun wörtlich genommen: Am Mittwoch, dem 30.11., sprach einer der bedeutendsten Klimaforscher der Welt mit den Schüler*innen der Liebfrauenschule im Hörsaal des OFFIS Oldenburg. Professor Jochem Marotzke war im Rahmen des Vernetzten Unterrichts zum Thema "Schools for Future" eingeladen worden. Marotzke ist einer der drei Direktoren des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg. Zuvor war er bereits am Massachusetts Institute of Technology (MIT) tätig – eine amerikanische Spitzenuniversität, die zu den renommiertesten Universitäten der Welt zählt. Darüber hinaus ist der Hamburger ein Koordinierender Leitautor des aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC). Kurzum: Wenn jemand etwas zum Klimawandel und seinen Folgen sagen kann, dann Herr Marotzke.
Das 1,5-Grad-Ziel als Herkulesaufgabe
Herr Marotzke referierte zum Thema "Klimawandel, Apokalypse, Politik - und Wissenschaft" und ging zuerst auf das sogenannte 1,5-Grad-Ziel im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ein, das die Richtschnur aller Klimapolitik heute ist. In Artikel 2 des Abkommens hätten sich die Staaten darauf geeinigt, „die globale Oberflächenerwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau deutlich unter 2-Grad-Celsius zu halten sowie Anstrengungen zu unternehmen, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.“ Dieses Ziel erfordere massive Anstrengungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen.
Herr Marotzke betonte, dass vielen die Dimension dieser Herausforderungen kaum klar sei. Um eine konkrete Vorstellung davon zu bekommen, wählte Herr Marotzke einen Vergleich: So sei im Corona-Pandemie-Jahr 2020 mit all seinen Lockdowns und Betriebsstillegungen der globale CO2-Ausstoß um etwa sieben Prozent gesunken. Um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen, bräuchte es ab jetzt jedes Jahr eine solche Reduktion um sieben Prozent – also jedes Jahr eine Minderung wie beim harten Lockdown von Industrie, Verkehr und Handel usw.
Wissenschaftler, Ingenieure und Politiker setzen deshalb nicht primär auf das Stilllegen, sondern auf das Transformieren unseres Produktions- und Konsumsystems. „Noch nie in der Menschheitsgeschichte musste eine Transformation des Energiesystems global, simultan und zielgerichtet ablaufen“, zitierte Herr Marotzke dazu seinen Kollegen Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wirtschaftsgeschichte.
Wie kann so ein gewaltiges Ziel erreicht werden, ohne einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu erleben und ohne den gesellschaftlichen Rückhalt für Klimaschutz zu verlieren? Hier, betonte der Klimaexperte, brauche es auch die Sozialwissenschaften, die sich mit den sozialen Prozessen in einer Gesellschaft beschäftigen. Im "Hamburg Climate Futures Outlook" des Exzellenzclusters „Klima, Klimawandel und Gesellschaft“ untersuchten die sozialwissenschaftlichen Kolleg*innen von Herrn Marotzke zehn soziale Treiber einer Dekarbonisierung – darunter internationale Abkommen, Bewegungen wie Fridays for Future, Reaktion großer Firmen oder das Konsumverhalten. Ergebnis: Sechs Treiber bringen den Klimaschutz voran, zwei verhindern ihn bis jetzt – etwa die Ausweichreaktionen großer Konzerne.
Ernüchterndes Zwischenfazit: 1,5-Grad unrealistisch
In Anbetracht der Größenordnung der einzusparenden Emissionsmengen auf der einen Seite und der nicht ausreichenden Maßnahmen auf der anderen kam Herr Marotzke zu dem ernüchternden Zwischenfazit, dass das 1,5-Grad-Ziel wohl kaum erreicht werden wird. Enttäuschte Blicke unter den Zuhörenden. „Sind wir nun alle verloren?“, mag da wohl so manch einer gedacht haben. Und auf solche oder ähnliche Reaktionen, die ihm oft begegneten, wenn er dies sage, ging Professor Marotzke im Folgenden anschaulich ein. Dies Reaktionen reichten von Aussichtslosigkeit bis Trotz, Plumpheit bis Ignoranz. Während beispielsweise einige dem Wissenschaftler für das Aussprechen der Wahrheit vorwarfen, er erzeuge damit doch Hoffnungslosigkeit oder man müsse jetzt erstrecht an dem Ziel festhalten, entgegne die andere Seite, dass das mit dem Klima und Klimaschutz schon immer Quatsch gewesen sei.
Und jetzt – sind wir alle verloren? Nein.
Wie antwortet man auf solche Vorwürfe? Herr Marotzke betonte, dass wir auch nach dem Reißen der 1,5-Grad-Marke nicht verloren seien, jetzt und in Zukunft viel für den Klimaschutz tun könnten. Einige Klimaforscher würden zwar eindringlich vor vielen Kipppunkten warnen, also einer Art Klima-Kettenreaktionen, die durch eine Erwärmung der Erde über 1,5-Grad ausgelöst werden und in einer Klimakatastrophe enden könnten. So würde die Protestierenden rund um die „Letzte Generation“ warnen: „Wir haben noch zwei bis drei Jahre, in denen wir den fossilen Pfad der Vernichtung noch verlassen können.“ Auf diese Stimmen und einige Forschungsarbeiten in der Fachwelt ging Herr Marotzke ernsthaft ein.
Herr Marotzke fasste den aktuellen Stand des Wissens über Kipppunkte im 6. IPCC-Sachstandsbericht 2021 (Kapitel 4, Tabelle 4.10) wie folgt zusammen: Zu den sogenannten Kipppunkten gebe es einen zu lückenhaften Wissensstand, viele Kipppunkte seien hypothetisch oder gar unwahrscheinlich. Dennoch könnten Kipppunkte nicht ausgeschlossen werden weshalb es fahrlässig wäre, sich auf ein solches Risiko einzulassen. Das bedeutet also: Die 1,5-Grad-Marke ist kein sicherer Kipppunkt in die globale Katastrophe und den Weltuntergang, die Klimarisken stiegen aber graduell mit jedem halben Grad deutlich. Jede Klimaschutzmaßnahme, die die Erwärmung also mindere, sei wichtig. Es gebe somit keinen „Point-of-no-Return“ – Klimaschutz sei dringlich, es gebe aber kein „jetzt ist alles zu spät!“.
Dabei gab Herr Marotzke auch zu bedenken, dass das Risiko von sehr vielen Medien und einigen Klimaexperten oft maßlos übertrieben werde. Sein Kollege Bjorn Stevens stellte dazu in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT fest: „Ich kann nur bewundern, wie die Kollegen dort die Fachliteratur nach den alarmierendsten Geschichten durchforsten. Ich finde es schade, dass diese dann unkritisch präsentiert werden.“ Ein solcher Katastrophismus könnte kontraproduktiv für den Klimaschutz wirken, weil die Situation als hoffnungslos wahrgenommen werden könnte und Fatalismus entstehe. Außerdem lenke ein solcher Katastrophismus von wichtigen und leicht umsetzbaren Anpassungsmaßnahmen, die tatsächlich viele Menschenleben vor Starkregen oder Fluten schützen könnten, ab. Klimaschutz und Anpassung schlössen sich nicht aus.
Alles halb so wild? Nein!
Also alles halb so wild – wir können uns zurücklehnen und können den Klimaschutz als unwichtig abtun? Nein! Aber die verbreitete Vorstellung, dass junge Menschen keine Zukunft hätten und wir geradewegs in den Weltuntergang steuerten, sei falsch. Dies bedeute nun wiederum nicht, dass die Klimarisken zu verharmlosen seien! Am Ende reift die Erkenntnis: Die Wissenschaft liefere eben nicht immer die einfachen Antworten - egal von welcher politischen Seite diese manchmal eingefordert würden.
Das zeigte sich auch in der anschließenden Diskussion, in der Jochem Marotzke die vielen Fragen aus den vier Kursen des 11. Jahrgangs sehr offen und schülernah beantwortete. Dabei betonte der Wissenschaftler aber auch oft die Grenzen seines Wissens und wollte sich in energiepolitischen Fragen nicht anmaßen zu sagen, was nun die "richtige" Politik sei - auch wenn er sich gegen die Kernkraft als Lösung und für mehr Erneuerbare Energien und eine rasche Verkehrswende aussprach. Entgegen der landläufigen Erwartungen, klare Handlungsanweisungen von einem Wissenschaftler zu bekommen, machte der Experte also klar, wo die Grenzen seines Fachwissens lägen.
Wie realistisch das Null-Emissionsziel erst angesichts der vielen Entwicklungs- und Schwellenländer sei, die erst noch der Armut entkommen wollten und dafür heute oft noch auf die fossilen Energien setzten, so wie es der globale Norden bis heute getan hätte? Für Herrn Marotzke zeigte sich gerade hier das Dilemma, denn einerseits hätten arme Länder zunächst andere Sorgen wie Armutsbekämpfung, andererseits bräuchten sie auch keine Belehrungen aus dem Norden, der den historisch größten Anteil am Treibhausgas-Ausstoß zu verantworten habe. "Ich bin froh, dass ich Wissenschaftler bin und kein Energiepolitiker, der diese Herausforderung meistern muss", lautete ein Fazit. Wie groß mitunter die Kluft zwischen Reden und Handeln sei, zeige sich auch in Deutschland selbst, das nun Flüssiggas aus Katar beziehe.
Wo da die Hoffnung auf echten Wandel bliebe, wurde Herr Marotzke abschließend gefragt. Dem Trübsal stand der Wissenschaftler entschieden entgegen: "Die verbreitete Meinung, dass das Eintreten für den Klimaschutz oder die Klimapolitik bis jetzt gar nichts gebracht hätte ist vollkommen falsch!", ermutigte er die anwesenden Jugendlichen. Als er mit seinen Forschungen zum Klimawandel angefangen habe, sei das Ganze ein Nischenthema gewesen. "Heute ist es im Mainstream!", betonte der 63-Jährige. Es habe einen enormen Fortschritt bei den Erneuerbaren Energien gegeben, sie würden immer effizienter, billiger und weltweit in einem rasenden Tempo ausgebaut - ein Grund, warum internationale Klimaforscher*innen sich mittlerweile einig seien, dass wir nicht mehr auf dem "Worst-Case-Emissionspfad" seien.
Es sei dadurch längst nicht alles gut, aber eben auch nicht alles vorbei. Bei allen Rückschlägen habe es großen technischen, politischen und gesellschaftlichen Fortschritt gegeben.
Leider konnten nicht mehr alle Meldungen drangenommen werden, weil Herr Marotzke zu seinem nächsten Termin zurück nach Hamburg musste. Wir danken Herrn Marotzke für die sehr interessanten Einblicke aus erster Hand und seinen motivierenden Vortrag!
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